Angelika Söder gehört zu den besten Schiedsrichterinnen in Deutschland. Seit ihrem zwölften Lebensjahr leitet sie Fußballspiele. Im Interview mit Continental berichtet Sie, warum bei Ihrer Schiedsrichterinnen-Premiere die erste Halbzeit etwas länger dauerte, wie sie mit Fehlern umgeht – und was geschieht, wenn sie mit ihrem Mann eine Fußballübertragung anschaut...
Frau Söder, viele Fußballspielerinnen berühren den Rasen, wenn sie aufs Feld laufen. Haben Sie auch ein Ritual, das vor jedem Spiel dazugehört?
Angelika Söder: Bei der Platzbegehung vor dem Spiel laufe ich immer zuerst zum linken Tor, dann zum rechten. Aber das hat keinen großen Hintergrund, das ist einfach meine Routine.
Sie haben sehr früh mit der Schiedsrichterei angefangen. Wie kommt es, dass eine Zwölfjährige Fußballspiele leiten möchte?
Das hat mit meinen Geschwistern zu tun. Mein Bruder ist zehn Jahre älter als ich, meine Schwester ist sechs Jahre älter, und beide waren zu der Zeit schon als Unparteiische aktiv und in ganz Bayern unterwegs. Davon haben sie natürlich zu Hause erzählt, und das hat mir gefallen. Das wollte ich auch machen. Dazu kam, dass man als Schiedsrichterin ja bezahlt wird. Meine Freunde habe Zeitungen ausgetragen, um ihr Taschengeld aufzubessern. Ich habe Spiele gepfiffen.
Sie haben ja auch Fußball gespielt – was reizte Sie mehr an der Rolle als Referee?
Das war einfach mehr mein Ding. Ich habe seit der F-Jugend Fußball gespielt, aber mit 16 habe ich dann entschieden, nur noch Schiedsrichterin zu sein. Das war schon allein deshalb nötig, weil es ständig zu Terminkollisionen kam, denn Fußballspiele finden nun mal fast immer an Wochenenden statt. Als Schiedsrichterin war ich in der Zeiteinteilung dann etwas flexibler. Vor allem hatte ich Spaß daran, Fußballspiele zu leiten, auf das Einhalten der Regeln zu achten. Und es hat ja auch prima funktioniert.
Waren Sie schon immer besonders selbstbewusst?
Das weiß ich gar nicht so genau. Aber ich habe eigentlich von Anfang an – man wird als junge Schiedsrichterin ja begleitet und bewertet – recht positives Feedback bekommen. Ich konnte auch Entscheidungen durchsetzen, die bei den Spielern nicht so populär waren. Obwohl das am Anfang sehr ungewohnt war: Es passiert etwas auf dem Feld, man spürt auf einmal die Blicke von Spielern und Zuschauern, weil alle eine Entscheidung erwarten. Das war schon ein komisches Gefühl, und kostete mich manchmal ganz schön Überwindung.
Erinnern Sie sich an Ihr erstes Spiel?
Ja, das war ein U13-Match bei der DJK Pilsach. Ich war aufgeregt, logisch. Und ich hatte mir extra eine Stoppuhr gekauft. Leider jedoch habe ich beim Anpfiff vergessen, auf 'Start' zu drücken. Irgendwann riefen die ersten Eltern von draußen 'Schiri, Zeit!'. Da habe ich noch ein bisschen spielen lassen, denn es wäre allzu offensichtlich gewesen, auf die Rufe zu reagieren. Und dann habe ich zur Halbzeit gepfiffen. In der zweiten Halbzeit habe ich dann die Stoppuhr gedrückt, also gleich etwas verbessert.
Ihre Schiedsrichter-Karriere verlief bislang wie mit einem Strich gezogen. 2001 haben Sie begonnen, 2007 wurden Sie DFB-Schiedsrichterin, 2008 pfiffen Sie ihr erstes Frauen-Bundesliga-Spiel, seit 2015 sind Sie auch FIFA-Schiedsrichterin. Was wird die nächste Stufe auf dieser Erfolgsleiter sein?
Jetzt könnte ich sagen, ich schaue von Spiel zu Spiel. Aber natürlich will man als Schiedsrichterin, genau wie die Spieler und Spielerinnen, eine Perspektive haben, ein Ziel. Aktuell bin ich im Perspektivkader für die 3. Liga der Männer. Und klar, wenn ich irgendwann mal bei einer EM oder WM dabei sein könnte, wäre das großartig. Im vergangenen Herbst habe ich immerhin schon einmal an einem Vorbereitungslehrgang für die Frauen-EM 2025 teilgenommen. Was interessant ist: Ich nehme das gar nicht als so besonders war, was ich als Schiedsrichterin mache. Ganz einfach deshalb, weil es schon so lange zu meinem Leben dazugehört. Andererseits ist es schon außergewöhnlich, eine von fünf deutschen FIFA-Schiedsrichterinnen zu sein.
Sie haben Psychologie studiert und arbeiten halbtags in einer Beratungsstelle. Ist der Sport vielleicht auch eine Art Praxistest für Ihr Fachwissen über menschliches Verhalten?
Wenn ich ein Spiel pfeife, dann gibt es da keine psychologischen Tricks, etwa um die Spieler auf meine Seite zu bringen. Andererseits sorgt ein Psychologiestudium wahrscheinlich schon dafür, dass man gewisse Situationen auf bestimmte Art wahrnimmt. Das gilt aber ganz generell, und nicht nur auf dem Fußballfeld.
Wie trainiert eigentlich eine Schiedsrichterin?
Ich trainiere vier- bis fünfmal pro Woche, dazu kommt ein Spiel am Wochenende. Das ist schon ein Zeitaufwand, der mehr ist als ein normales Hobby. Vom Schiedsrichter-Fitnesscoach des DFB bekomme ich einen Trainingsplan auf meine App. Dazu gehören Joggen, Intervalltraining, Sprinttraining, Regenerationstraining, Dehnübungen. Meist absolviere ich das Pensum alleine, ab und zu auch in einer Gruppe mit anderen Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern.
Fällt es Ihnen als Psychologin vielleicht etwas leichter Spielerinnen und Spieler zu führen?
Ein angemessener Umgang mit Spielerinnen und Spielern entsteht vor allem durch Erfahrung. Man probiert etwas aus, und wenn es funktioniert, behält man es bei. Wenn es nicht funktioniert, lässt man es das nächste Mal weg. Was immer gut ankommt: Wenn man als Schiedsrichterin einen Fehler zugibt und das den Spielern auch mitteilt. Damit habe ich bislang nur positive Erfahrungen gemacht. Wenn ich beispielsweise auf Abstoß entschieden habe, und ein Spieler kommt und sagt, 'Schiri, ich war noch dran' – dann ist es für mich kein Problem zu sagen: 'Okay, dann gibt es Eckball.'
Sie pfeifen Spiele von Frauen- und Männermannschaften – was ist dabei der wesentliche Unterschied?
Bei der Vorbereitung aufs Spiel gibt es für mich keinen Unterschied. Generell hilft es, wenn die Entscheidungen in den ersten Spielminuten passen. Damit verschafft man sich einen gewissen Respekt. Was durchaus ein Unterschied ist: Im Frauenfußball wird in der Regel weniger geschauspielert. Frauenteams geben sich auf dem Platz meist etwas echter und nahbarer. Zudem stelle ich teilweise fest, dass ich bei einem Spiel der Männer mehr im Fokus in meiner Rolle als Schiedsrichterin bin, als es sonst der Fall ist. Das heißt, wenn ich einen Fehler mache, dann passiert das sozusagen im Namen aller Schiedsrichterinnen. Das ist dann schon nochmal eine besondere Situation.
Im vergangenen Jahr leiteten Sie mit ihren beiden Assistentinnen erstmals als reines Frauen-Team ein Spiel der Regionalliga Bayern der Männer. Hinterher sagte einer der Trainer, er wünsche sich öfter Frauen als Schiedsrichter, denn die hätten mehr Fingerspitzengefühl. Ein Klischee, oder ist da was dran?
Ich denke schon, dass Frauen grundsätzlich empathischer sind. Und womöglich haben sie auch etwas mehr von diesem berühmt-berüchtigten Fingerspitzengefühl – was immer man genau darunter verstehen mag.
Fußball kann hitzig und hektisch sein, Rudelbildung auf dem Platz, tobende Trainer, brüllende Fans. Wie gelingt es, in unübersichtlichen Situationen ruhig und souverän zu bleiben?
Trainieren im engeren Sinn lässt sich das nicht, aber zum Glück bin ich ja nicht allein auf dem Platz, sondern gemeinsam mit meinen beiden Assistentinnen oder Assistenten. Es ist wichtig, dass man bereits vor dem Spiel die Aufgaben innerhalb des Schiedsrichterteams klar verteilt. Etwa so, dass im Falle einer Rudelbildung beispielsweise eine Assistentin auf die Spieler schaut, die mit der ursprünglichen Situation gar nichts zu tun hatten, aber plötzlich angelaufen kommen. Die andere Assistentin beobachtet, was rund um die Trainerbänke passiert. Und als Schiedsrichterin ist es entscheidend, sofort über das Headset zu kommunizieren, welche Spieler die Auslöser der Situation waren, also etwa 'Nummer fünf weiß, Nummer 7 schwarz'. Dann wissen alle Bescheid und diese Spieler können, wenn sich die Lage wieder beruhigt hat, eindeutig zugeordnet und sanktioniert werden.
Sie müssen körperlich fit sein, vor allem aber auch maximal konzentriert über 90 Minuten, denn Unparteiische treffen bis zu 200 Entscheidungen pro Spiel. Wie halten Sie diese Dauerkonzentration hoch?
Natürlich gibt es im Spiel auch Phasen, in denen der Spielverlauf etwas ruhiger ist. Auch da hilft es, wenn das Schiedsrichterteam untereinander kommuniziert, nach dem Motto 'Achtung, da könnte gleich ein Konter starten, bleibt aufmerksam'. Denn oft ist es so, dass in einer scheinbar ruhigen Minute eine Situation eintritt, in der eine gelbe oder sogar rote Karte nötig ist. Und zwar deshalb, weil auch einige Spieler zurückschalten, und dann auf einmal – meist einen Tick zu spät – reagieren müssen.
Ihr Mann ist, neben seinem Lehrerberuf, ebenfalls Schiedsrichter. Werden im heimischen Wohnzimmer auch mal strittige Szenen diskutiert, wenn Sie gemeinsam Fußballspiele anschauen?
Klar, das kommt immer wieder vor. Und selbstverständlich haben wir auch einen anderen Blick auf ein Fußballspiel als viele andere Zuschauer. Wir blicken natürlich mehr auf die Schiedsrichter und die Assistenten. Normalerweise achten Zuschauer ja erst dann auf den Schiedsrichter, wenn er eine wichtige Entscheidung trifft oder einen Fehler gemacht hat. Wir achten zum Beispiel auch darauf, wie das Schiedsrichterteam miteinander kommuniziert. Wo der Schiedsrichter steht, welche Laufwege er wählt und ob er einen guten Blickwinkel aufs Geschehen hat.
Sie haben mal von sich gesagt, sie lassen sich „nicht so schnell emotional involvieren“. Erinnern Sie sich an Situationen auf dem Platz, die sie dann doch ganz schön mitgenommen haben?
Ich erinnere mich an ein Länderspiel, bei dem ich vierte Offizielle war, und sich etwa zehn Meter entfernt von mir eine der Spielerinnen einen Kreuzbandriss zuzog. Der Schrei war durchdringend, die Mitspielerinnen kamen angelaufen, es gab viele Tränen. Das hat mich ganz schön mitgenommen. Und auf der anderen Seite war ich im vergangenen Herbst beim Frauen-Länderspiel England gegen die USA im Wembleystadion, auch als vierte Offizielle. Als die knapp 80.000 Zuschauer die Hymne anstimmten, was das wirklich ergreifend. In dem Moment wurde mir deutlich, dass aus meinem Hobby, das ich mit zwölf angefangen habe, inzwischen etwas richtig Großes geworden ist.
Als Schiedsrichterinnen müssen Sie eine Gruppe von 22 sehr unterschiedlichen Menschen leiten. Gibt es Tricks, wie man mit besonders übermotivierten oder körperlich harten Typen umgeht?
Der beste Trick ist immer noch, klar und nachvollziehbar zu entschieden. Ich komme eigentlich ganz gut mit eher robusten Spielern klar, die auch mal übers Ziel hinausschießen. Die wissen meist selbst ganz genau, wenn sie zu hart eingestiegen sind – und akzeptieren dann auch die entsprechende Karte.
Stellen Sie sich vor, Ihre Tochter will in zehn oder zwölf Jahren auch Schiedsrichterin werden: Wenn Sie einen Wunsch hätten, was sich bis dahin im Fußball geändert hat, welcher wäre das?
Man hört ja immer wieder von Gewalt auf oder neben dem Fußballplatz. Ich hoffe sehr, dass dieses Verhalten endlich aufhört. Und außerdem wäre es ganz grundsätzlich wichtig, dass der Respekt gegenüber den Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern weiter zunimmt. Wir sind ein Teil des Spiels, und wir möchten allen anderen Beteiligten auf Augenhöhe begegnen.
Angelika Söder, 34, ist Mitglied des TSV Ochenbruck in Mittelfranken und begann im Alter von zwölf Jahren, als Schiedsrichterin Fußballspiele zu leiten. Mit 18 wurde sie DFB-, mit 25 FIFA-Schiedsrichterin. In der Regionalliga Bayern der Männer pfeift sie seit 2012 Fußballspiele. Unter anderem leitete sie bislang 80 Regionalliga-Spiegel der Männer, 113 Frauen-Bundesliga-Spiele, 4 Frauen-Champions-League-Spiele und 5 Frauen-Länderspiele; zudem pfiff sie das DFB-Pokalfinale der Frauen 2016. Angelika Söder studierte Psychologie in Erlangen. Sie ist verheiratet und Mutter einer zweijährigen Tochter.