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# Frauenfußball

“Ich bin dafür ein gutes Beispiel“


Nia Kunzer 1

Sie weiß, wie man einen Weltmeistertitel klar macht: Nia Künzer köpfte im WM-Finale 2003 der DFB-Frauen gegen Schweden das Golden Goal. Im Gespräch mit Continental analysiert die Fußballexpertin der ARD die Chancen der DFB-Frauen bei der WM in Australien und Neuseeland. Sie erinnert sich an ihren großen WM-Moment – und erklärt, warum Misserfolge bei der Männer-Nationalmannschaft auch den Frauen schaden.

 

Frau Künzer, wie schätzen Sie die Chancen der deutschen Nationalmannschaft bei der WM ein?

Das ist natürlich immer der Blick in die Glaskugel, es gibt einfach so viele Unwägbarkeiten bei einer Weltmeisterschaft. Die Beantwortung dieser Frage aber gehört wohl zur Aufgabenbeschreibung, wenn man als Fußball-Expertin tätig ist.

Lassen Sie uns kurz in Ihre Glaskugel schauen, bitte.

(lacht). Gut, was sehe ich da? Die deutsche Mannschaft sollte als Gruppenerster abschließen können, ganz klar. Auch wenn die Ergebnisse und vor allem auch das taktische Spiel in den letzten Tests gegen Vietnam und Sambia noch Luft nach oben boten, bin ich angesichts der Gegner Marokko, Kolumbien und Südkorea doch sicher: Deutschland ist Favorit auf den Gruppensieg. Dann kann in den K.O.-Runden alles passieren. Die Deutschen können bereits im Achtelfinale auf Brasilien oder Frankreich treffen. Wichtig ist, dass die Mannschaft in einen Flow kommt, so wie bei der Europameisterschaft 2022 in England.

Der Flow war zuletzt noch nicht da. Gegen Sambia, Nummer 77 der Weltrangliste, verlor man 2:3. Im Härtetest gegen Brasilien im April war die Mannschaft überfordert und mit dem 1:2 noch gut bedient. Was haben Sie direkt danach gedacht?

Gemischte Gedanken. Zum einen sind die Vorbereitung und ein Turnier zwei sehr verschiedene Paar Schuhe. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Favorit vor einem Turnier schwächelt und dann doch groß aufspielt. Zum anderen habe ich schon gedacht: Da muss sich einiges verbessern. Gegen Brasilien war klar, die Stammformation sollte im Turnier schon gesund sein, wenn wir starken Gegnerinnen erfolgreich Paroli bieten wollen. Der Defensivverbund muss stabiler werden, das hat man auch gegen Sambia gesehen.

Haben Sie sich schon mit Gegnerinnen in der Vorrunde auseinandergesetzt? Zum Beispiel mit der Mannschaft von Marokko, gegen die Deutschland als erstes spielt? 72. der Weltrangliste, knapp hinter Fidschi und Äquatorial-Guinea.

Soweit das möglich ist. Marokko ist sicher auch eine Mannschaft, die vermutlich nicht mit offenem Visier spielen wird und lieber kompakt und tief stehend auf ihre wenigen Chancen lauert. Das kann eine zähe Angelegenheit werden. Insofern war der Test gegen Sambia, die sicher einen ähnlichen Matchplan hatten, schon sehr sinnvoll.

Woher bekommen Sie eigentlich Insider-Infos zum Beispiel zu Marokko? Gibt’s da ein schön recherchiertes Handout von der Sportschau-Redaktion?

Das hat sich zum Glück sehr verbessert. In der Vergangenheit gab es oft gar nichts an Vorbereitung, es gab einfach keine oder nur wenige Daten, da musste ich vorher alles selbst recherchieren. Heute gibt es, je nach Mannschaft, ein kürzeres oder längeres Briefing. Hier hat der Frauenfußball aber noch Nachholbedarf. Gerade bei vermeintlich exotischeren Teams ist die Faktenlage ausbaufähig. Das ist für mich, aber vor allem natürlich für die Kommentatorinnen und Kommentatoren, eine Herausforderung. Ich habe mal ein U21-Länderspiel der Männer als Expertin mit begleitet, da gab es vorab ein 60-seitiges Dossier zur deutschen Mannschaft bzw. zum Gegner. Bei der EM der Frauen im vergangenen Jahr war es eine Seite.

Schauen wir auf das deutsche Team. Der Kader steht. Giulia Gwinn ist nicht dabei, die bei der EM 2022 noch in der „Elf des Turniers“ stand, aber seit ihrem Bänderriss im Oktober kein Spiel mehr absolviert hat.

Schwieriges Thema. Giulia wäre immer eine Stärkung des Teams, ganz klar. Ich habe aber keinen Einblick in ihren tagesaktuellen Gesundheitszustand. Es war ja ihr zweiter Kreuzbandriss, und ein dritter wäre fatal. Ich weiß, wovon ich rede. Ich hatte ja seinerzeit selbst vier Kreuzbandrisse. Insofern kann ich die Entscheidung der Trainerin aus Fürsorgegründen verstehen.

Dann ist Melanie Leupolz dabei, acht Monate nach Geburt ihres ersten Kindes. Damit ist sie die erste spielende Mutter in einem deutschen Team bei einem Turnier.

Melanie hat sich das verdient. Sie hat nach der Geburt wahnsinnig gearbeitet, sich bei ihrem Verein Chelsea und in der Nationalmannschaft zurückgekämpft. Gut finde ich, wie Melanie von Team und Verband unterstützt wird. Baby und Babysitterin sind mitgeflogen nach Australien. Das ist ein wichtiges Thema, auch für die Zukunft: Wie geht man im Verein, in Nationalmannschaften mit Spielerinnen um, die schwanger sind, aus der Schwangerschaft kommen, die kleine Kinder haben.

Im Tor ist Merle Frohms gesetzt. In der Abwehr könnten Sara Doorsun, Felicitias Rauch, Martina Hegering, Sophia Kleinherne spielen. Das wären zwei Doppelpacks aus Frankfurt und Wolfsburg in der Verteidigung. Kann so eine Vertrautheit aus dem Verein entscheidend sein?

Von Vorteil ist es schon, wenn man sich auf dem Platz gut kennt. Auf der anderen Seite sind die Spielerinnen alles Profis, und die meisten sind sich ja auch schon ein paar Mal in der Nationalmannschaft begegnet. Manchmal kristallisiert sich in der Vorbereitung und im Verlauf des Turniers eine ganz neue Vertrautheit heraus. Schlüsselspielerinnen wie Martina Hegering, die so etwas wie der Fels in der Brandung hinten sein kann, sind natürlich entscheidend.

Im Mittelfeld könnte mit Lena Oberdorf und Jule Brand eine Wolfsburger Achse spielen. Beide Spielerinnen aber sind erst 20 Jahre alt. Sie tragen eine enorme Verantwortung.

Erstmal schauen, wie die Trainerin entscheidet. Lena Oberdorf sehe ich als gesetzt, Jule aber steht auch in Wolfsburg nicht immer in der Startaufstellung. Beide bringen Top-Leistungen, da hat man gar nicht das Gefühl, dass sie erst so jung sind. Insbesondere Lena hat so viel Erfahrung in jungen Jahren sammeln können. Und dann haben wir im Mittelfeld noch Lina Magull, Svenja Huth, das sind erfahrene Spielerinnen. Ich bin gespannt, auf welche Mischung die Trainerin setzt.

 

Deutschland läuft mit einem der jüngsten Teams auf. Sie kennen das ja: Sie waren 17 Jahre alt bei Ihrem ersten A-Länderspiel, im Mai 1997 gegen Dänemark. Und im Verein waren Sie mit Anfang 20 schon Kapitänin. Kann man fussballerisch älter sein als biologisch?

Das ist gar nicht unbedingt eine Frage des Alters, sondern der Persönlichkeit. Führungsspielerin kannst du auch in jungen Jahren sein, wenn du den Charakter dazu hast. Das kommt ja nicht automatisch mit dem Alter. Auch müssen diejenigen, die voran gehen, nicht die feinsten oder besten Fußballerinnen im Team sein. Ich bin dafür ein gutes Beispiel (lacht). Und es soll ja vorkommen, dass so eine Spielerin dann das Spiel entscheidet.

Und damit den Titel klarmacht. Sie haben als Einwechselspielerin, 23 Jahre alt, das Golden Goal im Finale der WM 2003 geköpft.

Es kommt in so einer Phase des Spiels auf den Willen an, den man an den Tag legt. Das Team, das bissiger ist, das die mental stärkeren Spielerinnen hat, setzt sich oft durch. Nicht das mit der größten Zauberkünstlerin. Es zeigt sich auch immer wieder, dass mehr als elf Spielerinnen nötig sind, um ein Turnier zu gewinnen. Jede ist wichtig!

Jetzt müssen wir auf Ihren Namen zu sprechen kommen. Sie sind in Botswana geboren, wo Ihre Eltern als Entwicklungshelfer arbeiteten. „Nia“ stammt aus der Swahili-Sprache und bedeutet „Ich will“. Da waren die Eltern der späteren Golden-Goal-Schützin prophetisch?

(lacht). Ich weiß gar nicht, ob meine Eltern damals wirklich um diese Bedeutung wussten, oder ob ihnen einfach der Name gefallen hatte. Im Nachhinein könnte man sagen: Passt. Aber ehrlich, darüber denke ich nicht nach.

Zurück zum aktuellen Team, Thema Angriff. Mit Alexandra Popp, Lea Schüller, Klara Bühl, Laura Freigang oder Tabea Waßmut gibt es hier großes Potenzial. Wen würden Sie aufstellen?

Schöner Übergang vom Thema „Willen“ zu Alex Popp… Das passt auch. Sie verkörpert für mich wirklich diesen eisernen Willen, immer ans Limit zu gehen und darüber hinaus. Sie kann sich unglaublich auf ein Ziel fokussieren, das Team mitziehen. Klara Bühl ist auch sehr stark, überhaupt die Offensive. Lea Schüller aber spielt auf ähnlicher Position wie Popp, da muss man sehen, wie gespielt wird.

Wir sprachen eben über Ihr Golden Goal. War das ein lebensverändernder Moment, im Alter von 23 Jahren? Würden wir überhaupt hier und heute sprechen, wenn Sie den Ball damals nicht ins Tor geköpft hätten?

„Lebensverändernd“ ist ein großes Wort. Aber es stimmt, wir würden heute vermutlich nicht sprechen. Es war ein großer sportlicher Moment, für das Team, für den Frauenfußball insgesamt, und auch für mich natürlich.

Kurze Zeit nach Ihrem Golden Goal ist Ihr Kreuzband zum vierten Mal gerissen. In der Nationalmannschaft haben Sie dann mit 24 Jahren Ihre Karriere beendet, im Verein mit 28. Haben Sie Ihren Frieden mit der recht kurzen internationalen Karriere gefunden?

Ja. Ich mache mir keine Gedanken, was gewesen wäre, wenn ich noch länger für das Nationalteam hätte spielen können. Ich habe mit der Historie von damals bereits drei Kreuzbandrissen die Nominierung für den WM-Kader 2003 geschafft, auf höchstem Niveau gespielt, dann ja auch mein Tor machen dürfen und bin Weltmeisterin geworden. Das ist rückblickend schon irre. Angesichts der Umstände bin ich dankbar, was ich erreichen durfte.

Ihr letztes Spiel im Nationaltrikot haben Sie im November 2003 immerhin 13:0 gegen Portugal gewonnen. Ihr erstes Spiel überhaupt als kleines Mädchen aber, als F-Jugendliche in Wetzlar, hatten Sie 10:0 verloren. Was war da los? Wo war die spätere Abwehrexpertin?

Ach, das kommt im Jugendbereich oft vor. Was genau da schiefgelaufen ist, daran erinnere ich mich nicht mehr. Wir waren, glaube ich, eine recht neue Truppe, und die anderen offenbar etwas sortierter auf dem Platz – wenn man das von einem F-Jugend-Team überhaupt so sagen kann.

Was würde die heutige TV-Expertin, ehemalige Nationalspielerin, Golden-Goal-Heldin, der kleinen Nia ins Ohr flüstern nach so einem Spiel?

Das kenne ich ja von meinen eigenen Kindern. Sie muss ich auch immer wieder einmal motivieren oder trösten. Ich sage immer, mal gewinnt man, mal verliert man. Wichtig ist doch, dass du Spaß hast mit deinen Freundinnen, mit deinen Freunden. Kinder haken Niederlagen ja auch ziemlich schnell wieder ab.

Und wenn Bundestrainer Hansi Flick, gerade im Krisenmodus, Sie anrufen würde und fragte „Nia, was rätst Du mir?“ Würden Sie ihm auch sagen: „Mal gewinnt man, mal verliert man“?

(lacht laut) Im Leistungssport kommt man mit dem Mantra nicht weit, fürchte ich. Hansi Flick, der gesamte DFB steckt da in einer wirklich schwierigen Situation. Man möchte eine Nähe zu den Fans heraufbeschwören, denkt jetzt schon an ein neues Sommermärchen bei der Heim-EM nächstes Jahr. Euphorie ist natürlich auch immer eng an sportlichen Erfolg geknüpft. Die Ergebnisse aber stimmen nicht. Man hat sich nach dem WM-Aus entschieden, Hansi Flick weitermachen zu lassen. Deshalb finde ich die erneute Diskussion jetzt fragwürdig. Wie soll er so in Ruhe arbeiten?

Für den Frauenfußball könnte das eine Chance sein. Die Männer erlebten vergangenes Jahr ein Fiasko in Katar, die Frauen begeisterten in England. Wenn die Frauen nun in Australien und Neuseeland überzeugen, stellen sie am Ende noch die beliebtere Fußballnationalmannschaft.

Ich glaube nicht, dass auch nur eine Spielerin, eine Verantwortliche in der Nationalmannschaft den Männern Misserfolg wünscht. Wenn die Männer Erfolg haben, profitieren auch die Frauen davon. Die allgemeine Fußballbegeisterung im Land ist wichtig. Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Frauen im Fußball hängt auch vom Erfolg der Männernationalmannschaft ab. Von Titeln der Männer und den damit zusammenhängenden Erlösen profitieren alle anderen Bereiche des DFB. Der Frauenfußball erlebt derzeit einen wichtigen Aufschwung. Das hat aber in erster Linie mit dem leidenschaftlichen, attraktiven und erfolgreichen Fußball zu tun, den die Frauen spielen, meistens jedenfalls. Damit, dass die Frauen einfach authentisch und nahbar wirken – und nicht mit den Problemen der Männer.


Nia Künzer, 43, ist ehemalige Nationalspielerin und Schützin des berühmten Golden Goals im WM-Finale 2003. Sie leitet heute hauptberuflich das Dezernat für Integration, Sozialbetreuung und Ehrenamt im Regierungspräsidium Gießen. Daneben ist sie Expertin für Frauenfußball in der ARD. Künzer ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Hessen.

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