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Die Sommermärchenerzähler


Vor 18 Jahren feierte Deutschland bei der Heim-WM 2006 das Sommermärchen: Trotz einer durchwachsenen Vorbereitung wurde die DFB-Elf am Ende Dritter. Heute ist die Situation durchaus ähnlich. Kann bei der Heim-Europameisterschaft ein zweites Sommermärchen gelingen?

Es läuft die Nachspielzeit im Dortmunder Westfalenstadion: Bernd Schneider chippt den Ball über die polnische Abwehr hinweg an den rechten Strafraumrand. Dort sprintet David Odonkor dem Ball hinterher. Er flankt halbhoch in den Strafraum auf Oliver Neuville, der den Ball aus fünf Metern ins Tor grätscht. 1:0 für Deutschland. Der Siegtreffer im zweiten Gruppenspiel gegen Polen bei der Heim-WM 2006. Es war der Moment, in dem das Turnier aus deutscher Sicht zum Sommermärchen wurde. Für die nötige Ouvertüre hatte da schon Philipp Lahm mit dem ersten Tor bei der Weltmeisterschaft gesorgt. Gegen Costa Rica wuchtete er bereits nach sechs Minuten den Ball unhaltbar zum 1:0 in die Maschen. Am Ende stand es 4:2, und eine Euphorie-Welle begann sich unaufhaltsam aufzubauen, bis sie dann durchs Dortmunder Westfalenstadion schwappte.

Die Euphorie beim „Sommermärchen“ in Deutschland kannte 2006 keine Grenzen. Viele Fernsehdokumentationen, darunter die sehenswerte „Unser Sommermärchen – Die WM 2006“, abzurufen in der ARD-Mediathek. Foto: Michael Gottschalk

Viele Fußballfans bekommen noch heute eine Gänsehaut, wenn sie an die Stimmung denken, die an jenem 14. Juni 2006 nach dem Siegtreffer von Neuville herrschte. Auch die Augen von Michael Ballack, damals Kapitän der DFB-Elf, leuchten, wenn er über die Zeit spricht. „Ich war fasziniert und begeistert von dieser Stimmung. Wenn du das mal erleben darfst als Spieler. So ein Turnier. Vor eigenem Publikum: das ist etwas ganz Besonderes. Das kann dich emotional und von der Leistung her auf eine ganz andere Ebene heben“, sagt Ballack, der inzwischen als Experte für den Telekom-Fernsehsender Magenta TV arbeitet, im Interview. Exakt 18 Jahre später, am 14. Juni 2024, startet die DFB-Elf nun die Mission „Sommermärchen 2.0“: Denn an diesem Tag findet das Eröffnungsspiel Deutschland gegen Schottland statt. Kann ein Remake gelingen?

Die Voraussetzungen sind jedenfalls ähnlich. Ernüchternde Auftritte, Testspielniederlagen, miese Stimmung – an all das denkt wahrscheinlich niemand im Zusammenhang mit der Fußball-WM 2006. Doch genau wie die DFB-Elf zuletzt lange nach ihrer Turnierform suchte, war es auch im Vorfeld des Sommermärchens. Auch die Gesamtsituation war damals eher trist. „Eine wirtschaftliche Flaute, schlechte Stimmung und schlechtes Wetter hatten wir im Vorfeld der WM 2006 auch“, sagte etwa der Sportsoziologe Gunter Gebauer im Gespräch mit dem Fernsehsender ZDF. „Und vor allem auch verheerende Niederlagen der Nationalmannschaft.“ Im Vorfeld der WM verlor Deutschland zum Beispiel mit 1:4 gegen Italien. 

Michael Ballack, der Capitano, war auch bei diesem Spiel dabei. Er wisse, wie rasch sich die Emotionen ändern können, sagt er heute im Interview mit Magenta TV. „Mit einem Spiel hast du sofort die Stimmung im Land gedreht, das eigene Selbstvertrauen gesteigert“, erinnert er sich an Odonkors Vorlage und Neuvilles Tor im Spiel gegen Polen. Ganz Fußball-Deutschland hofft nun, dass in diesem Jahr etwas Ähnliches gelingen kann. „Die Qualität ist da“, meint Ballack.

Michael Ballack war der „Capitano“ der Sommermärchen-Mannschaft 2006. Heute ist er gefragter TV-Experte und Werbegesicht unter anderem einer Sneakermarke. Foto: Skechers Arch Fit

Florian Wirtz, Jamal Musiala, Kai Havertz – das Team ist gespickt mit jungen Talenten, die gleichzeitig bereits reichlich Profi-Erfahrung gesammelt haben. Bayerns Mittelfeld-Star Musiala etwa ist 21, und stand bereits bei 27 Länderspielen auf dem Platz. Und Florian Wirtz, ebenfalls 21, gewann kürzlich als einer der Leistungsträger mit seinem Verein Bayer Leverkusen die Deutsche Meisterschaft. Dazu kommt das Comeback von Mittelfeld-Routinier Toni Kroos (34). „Die Mannschaft hat die richtige Mischung aus Talenten und aus Erfahrung“, sagt Ballack. „Alles ist geebnet, wir können es nur noch nicht abrufen.“ Fürs Abrufen zuständig ist Julian Nagelsmann – genau wie 2006 Jürgen Klinsmann ein junger, höchst ambitionierter Trainer. Nagelsmann ist sogar erst 36 Jahre alt, fünf Jahre jünger als Klinsmann bei der WM 2006.

„Klinsi“ war damals einer der Protagonisten, die im Lande für einen regelrechten Hype um die Nationalmannschaft sorgten. Die Menschen befestigten kleine Deutschland-Fahnen an ihren Autos, hissten die Flagge auf Balkon oder Terrasse und schmissen sich für die Spiele ihrer Mannschaft in Schale – mit DFB-Trikot, Schal und Schminke. Das Wetter spielte mit, bei strahlendem Sonnenschein zeigte Deutschland sich von einer Seite, die die Welt bislang so noch nicht kannte. „Das Ansehen Deutschlands in der Welt ist nach dieser WM ein anderes“, sagte der mittlerweile verstorbene Franz Beckenbauer später. Fünfhunderttausend Menschen feierten die DFB-Elf nach dem Sieg beim Spiel um den dritten Platz gegen Portugal vor dem Brandenburger Tor.

Ob es Nagelsmann und Co. gelingt, in diesem Jahr einen ähnlichen Hype hervorzurufen? Das hängt insbesondere von den sportlichen Leistungen ab. Die Erfahrung von 2006 zeigt: Manchmal genügen eine perfekte Flanke und ein Tor in der Nachspielzeit, um eine ganz besondere Stimmung im Land zu entfesseln. Oder wie es der Soziologe Gunter Gebauer sagte: „Wenn es gut für die deutsche Mannschaft läuft, kann der Fußball für ein paar Wochen eine Euphorie entfachen, die manche Gräben vorübergehend überdeckt. Sie könnte uns eine Auszeit im Privaten von den Konflikten der Welt verschaffen.“