Karsten Daebel ist Cheforganisator der Choreografien bei Länderspielen der deutschen Fußballnationalmannschaft. Im Interview mit Continental erklärt er, worauf es bei einer guten Choreo ankommt, warum bestimmte Motive tabu sind und was die Fans bei der EURO erwarten dürfen.
Herr Daebel, 14. Juni, Eröffnungsspiel Deutschland gegen Schottland. Kurz vor 21 Uhr: Was dürfen die deutschen Fans von Ihnen erwarten?
Beim Eröffnungsspiel erst einmal gar nichts, leider. Der Ausrichter, die UEFA, plant eine eigene Choreografie im Rahmen der Eröffnungszeremonie. Wir sind beim Spiel gegen Schottland tatsächlich auch nur Zuschauer und gucken, was von der UEFA und der beauftragten Eventagentur auf die Beine gestellt wird. Ein bisschen schade ist es schon. Wir hätten gerne etwas Spezielles für die deutschen Fans gemacht. Der DFB ist ja aber nur Gast. Veranstalter ist die UEFA.
Dann die Vorrunderspiele: Gibt’s da eigene Choreografien?
Das hoffen wir! Wir stecken mitten im Genehmigungsprozess. Da geht es um Stadionzugänge, um das Einbinden der Feuerwehr, der Polizei. Und um die Akkreditierungen für unser Team. Wir haben jetzt vom Veranstalter zunächst eine Freigabe für nur zehn Personen in Aussicht gestellt bekommen, für vier Stunden am Spieltag. Normalerweise sind wir mit 30 oder mehr Helferinnen und Helfern im Einsatz, den ganzen Tag. Mit zehn Personen in vier Stunden eine große Choreografie vorbereiten… Puhh… Ich hoffe, man kommt uns noch entgegen.
Sie haben mal in einem Interview davon berichtet, wie sie die ganze Nacht vorm Spiel mit Ihrem Team auf einem Campingplatz 75.000 Fähnchen zusammengesteckt haben. Das kommt jetzt wohl wieder auf Sie zu?
Ich hoffe, wir können alles vorher klären. Damals waren sehr kurzfristig nur Fähnchen genehmigt worden, so dass wir umplanen und eben Zehntausende Folien auf Stöckchen kleben mussten.
Was kommt nach der Vorrunde? Man kann ja nicht unbedingt davon ausgehen, dass die deutsche Mannschaft bis ins Halbfinale oder gar Finale kommt. Planen Sie trotzdem eine Final-Choreo?
Das ist bei jedem Turnier so: Man reagiert spontan je nach Turnierverlauf. Ein Pokerspiel. Natürlich gehen wir vorher die Stadien, die in Frage kommen, durch und schauen, was würde da oder dort gehen. Wir kennen die Stadien ja auch.
Es gibt beim DFB in Frankfurt keinen Choreo-Keller? Mit einer Tür, hinter der die Halbfinal-Choreo lagert, und hinter der nächsten die Final-Choreo?
Nein. Wir haben einen vollgepackten Sprinter mit ganz viel Zeugs, der parkt in Frankfurt und kann sofort losfahren. Wenn wir weiterkommen, müssen wir improvisieren.
Sie sind das „A-Team“ des DFB? Wie in der legendären TV-Serie? Da war ja auch ein buntes Expertenteam mit einem Lieferwagen unterwegs und bastelte für jede denkbare Situation eine spontane Lösung zurecht…
(lacht). So in etwa. Wir müssen gucken, was wir haben, was von anderen Einsätzen übriggeblieben ist. Wenn wir genügend Zeit haben, ergänzen wir natürlich. Wir machen uns vorab eine Menge Gedanken. Die Fans dürfen sich auf hoffentlich schöne Choreos freuen. An uns wird’s nicht liegen.
Ihre Arbeit ist mit der von 100-Meter-Läufern zu vergleichen: Sie schuften mitunter monatelang auf etwas hin, was in wenigen Sekunden schon wieder vorbei ist. Immerhin erst nach 60 Sekunden, nicht nach knapp zehn Sekunden.
Und manchmal sogar erst nach 90 Sekunden! Aber Sie haben Recht, der Aufwand ist immens für ein kurzes Spektakel. Eigentlich macht das keinen Sinn, was wir machen. Aber so darf man nicht denken. Wir schaffen ja Bilder, die bestenfalls deutlich länger wirken als die paar Sekunden, die sie im Stadion zu sehen waren.
Überhaupt müssen wir einmal Ihre genaue Jobbeschreibung klären: Sind Sie auch der Capo? Stehen Sie während des Spiels mit dem Megaphon vor den Fans und animieren sie zu Gesängen?
Nein. Ich mache nur die Choreografien. Das ist Arbeit genug. Themenerstellung, Koordinierung mit dem DFB, bei Turnieren mit den großen Verbänden, mit der Feuerwehr, der Security. Materialbeschaffung. Teamleitung. Meine Leute mit Tickets, Essen und Trinken versorgen. Das ist schon fast ein Full-Time-Job, rund ums Spiel.
Gibt es denn einen Capo für die Fans der Nationalmannschaft?
Nein. Das Thema kommt immer wieder einmal auf, ist aber ein schwieriges. Der DFB würde das schon befürworten. Denn es ist ja toll, wenn die Fans animiert werden und geschlossen als Fanblock singen, Aktionen machen und so weiter. Das ist bei der Nationalmannschaft aber anders als in den Vereinen. Die Fans kommen ja auch von konkurrierenden Clubs. Wenn der Capo aus Dortmund käme und davor stehen dann Fans aus Gelsenkirchen und sollen sich dirigieren lassen… Dazu kommt, dass immer unterschiedliche Fans bei den Spielen sind, und zudem ist man immer wieder woanders platziert und darf auch nicht stehen im Sitzplatzbereich. Daher ist die Stimmung eine andere als bei Vereinsspielen.
Ist das bei Ihnen im Choreo-Team nicht auch so? Sie sind ja rund 100 Fans.
Ja und nein. Wir kommen natürlich auch aus allen Himmelsrichtungen. Aber die typischen Animositäten haben wir nicht. Da arbeitet tatsächlich die Schalkerin Hand-in-Hand mit dem Dortmunder. Die gemeinsame Arbeit für die Nationalmannschaft, für die Fans, die verbindet und lässt das ganze Hick-Hack, das es auf Vereinsebene vielleicht gibt, in den Hintergrund rücken.
Sie sind seit bald 20 Jahren im Team Choreo. Sollten Sie doch einmal Ihr Amt abgeben – muss der DFB dann eine Findungskommission einberufen, wie bei der Suche nach einem neuen Nationaltrainer? Mit Rudi Völler an der Spitze?
Das ist ein anspruchsvoller Job, den man mit sehr viel Erfahrung bewältigt. Ich habe mir über all die Jahre ein gut funktionierendes Netzwerk an Kontakten aufgebaut – und ein tolles Team um mich herum! Ich kenne die Verantwortlichen in den Stadien. Die Feuerwehrleute. Die Kanäle, um schnell Material zu beschaffen. Klar, bis in alle Ewigkeit werde ich das nicht machen. Aber einen Rudi Völler müssen wir dann nicht einbinden, denke ich. (lacht)
Worauf kommt es bei einer guten Choreo an?
Ich persönlich mag es, wenn Bewegung dabei ist. Wenn zum Beispiel Fahnen im Einsatz sind, viele tausend kleine Fähnchen, die geschwenkt werden. Grundsätzlich aber hängt die Choreografie vom Stadion ab. Da ist es wichtig, wie die Tribünen gebaut sind, welche Neigung sie aufweisen, wie viele Sitzreihen in den einzelnen Rängen sind. Hängt der Oberrang über dem Mittelrang, dann beeinflusst das, wie ein großes Folienbanner sich ausbreiten lässt. Wenn das geklärt ist, dann gehen wir in die Planungen. Ganz entscheidend für eine gute Choreografie ist, dass der Fanblock voll besetzt ist. Und dann ist auch wichtig, welche Fans dort platziert sind.
Erzählen Sie.
Viele Fans reisen zum Beispiel mit Bussen an. Das ist natürlich im Prinzip super! Es kann aber Einfluss auf die Choreo haben, wenn ein Bus im Stau steht und nicht pünktlich am Stadion sein kann. Dann haben wir dort ein Loch im Fanblock, da fehlen 80 oder 100 Fans. Wenn das Loch gerade da ist, wo wir einen Schriftzug mit verschieden farbigen Pappen inszenieren, dann fehlt vielleicht das halbe „I“ oder gar ein ganzer Buchstabe. Was auch passieren kann, dass der Veranstalter uns, das Choreo-Team, mitten im Block platziert. Wir aber kommen erst spät zu unseren Plätzen, weil wir noch an der Choreografie arbeiten. Dann ist da auch ein Loch.
Wenn der Block aber voll ist, dann schreiben die Fans vermutlich Nachrichten nach Hause zu den Liebsten vorm Fernseher: Ich bin der i-Punkt!
Die Fans wissen meistens gar nicht, wo genau sie in einer Choreografie sitzen. Die sehen ja nicht das ganze Bild und haben keine Ahnung, dass sie gerade die Pappen hochhalten, die den i-Punkt bilden.
Wenn der Block voll ist: Wie schaffen Sie es, dass alle mitmachen?
Wir legen oft Flyer auf die Sitze, um kurz zu beschreiben, was wir wann vorhaben. Im Prinzip aber ist der Mensch ein Herdentier. Wenn einer sein Fähnchen schwenkt, machen die links und rechts auch mit, und – zack – ist der ganze Block dabei. Aber die Zusammensetzung der Fans ist entscheidend. Wenn viele Familien oder ‚Fanblockunerfahrene‘ im eigentlichen Fan-Block sitzen, müssen wir gut kommunizieren. Da sind dann Fans vielleicht im entscheidenden Moment, wenn die Pappen hochgehalten werden müssen, die Fähnchen geschwenkt werden oder eine Welle gestartet wird, mit ihren Kindern beschäftigt. Nochmal schnell aufs Klo, Cola kaufen. Da gehen wir zur Sicherheit kurz vor der Choreo nochmal durch die Reihen und erklären, was gleich passieren wird.
Bei der Gestaltung der Choreografie gibt es mitunter unerwartete Herausforderungen. Der DFB-Adler sei für die Gegner mitunter problematisch, heißt es.
Das ist richtig. Wir mussten ihn schon einmal aus einem Choreo-Bild entfernen, weil ein Gegner sich dadurch irritiert fühlte. Was sollen wir denn machen? Der Adler ist nun einmal unser Wappentier, unser Symbol. Die Mannschaft läuft mit dem Adler auf der Brust auf. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel saß seinerzeit bei der Heim-WM mit dem Adler-Wappen auf dem Jackett auf der Tribüne.
Bei EM oder WM haben UEFA oder FIFA die Hoheit in den Stadien. Bei der WM in Katar gab es Diskussionen um die Regenbogenbinde des deutschen Team-Kapitäns. Wie schwierig ist es da erst, eine Choreo vom internationalen Verband abnehmen zu lassen?
Bei Turnieren ist es eine Zwei-Stufen-Freigabe. Erst muss der DFB sein Okay geben, das ist meist kein Problem. Wir wissen, was geht und was nicht. Und dann muss jetzt bei der Europameisterschaft die UEFA grünes Licht geben. Und da wissen wir oft gar nicht, was gerade geht und was nicht. Das hängt am Ende von zwei, drei Personen ab, die wir nicht kennen. Wir müssen uns dann fügen, egal, um was es geht. Der Verband hat als Veranstalter das letzte Sagen.
Welchen Einfluss hat eine Choreografie auf das Spiel?
Wir tragen zum Gesamtflair bei. Und die gute Stimmung überträgt sich dann hoffentlich auf die Mannschaft. Ich würde aber nicht so weit gehen und behaupten, dass eine 60-sekündige Choreografie das Ergebnis beeinflusst. Die Tore müssen dann doch die Spieler schießen.